Wohnen in Brinckmansdorf - 1933 bis zum Kriegsende
Hans-Erich Flick /Anita Sawitzki
In den 30-er Jahren wurden in Brinckmansdorf immer mehr Einfamilien- und Doppelhäuser gebaut, so im Zorenappelweg, Vagel-Grip-Weg, Höger Up, Jan-Maat-Weg, Utkiek, Hüerbaasweg, Peter-Lurenz-Weg und in der Tessiner Straße 38-40. Während bisher nur Häuser mit Hartdach gebaut wurden, entstanden 1931/32 die ersten mit Dachpappe gedeckten Häuser im Zorenappelweg 3 bis 11 und im Unkel-Andrees-Weg 31 bis 34. Sie sollten bis nach dem Krieg die Einzigen bleiben.
An anderen Stellen wurden weitere Wohnstätten gebaut und Brinckmansdorf dehnte sich in verschiedene Richtungen aus. Die "Siedlergemeinschaft" verlor allmählich an Bedeutung. Nazistische Organisationen gewannen die Oberhand. Zwischen Utkiek und Roggentiner Weg gab es einen Fußballplatz, der vom Arbeitersportverein "Concordia" unterhalten wurde. Mit der Machtübernahme 1933 wurde diese Spielstätte beseitigt und mit verschiedenen Baumarten bepflanzt. Für uns Kinder entstand wegen des hohen Grasbewuchses eine begehrte Stätte zum Versteckspielen. Die Jungen fanden sich im "Jungvolk" wieder und mussten an bestimmten Tagen am "Weißen Kreuz" antreten zu Geländespielen, zum Kartenlesen und Umgang mit dem Kompass oder kamen zu Heimabenden zusammen.
Mit der Anschaffung der ersten Radioapparate und dem Bau von primitiven Antennen – ein Fichtenstamm mit Kupferkabel zum Haus – wurde gern in den Äther gelauscht.
Während sich um 1930 die Bevölkerung im Wesentlichen aus Arbeitern und Angestellten (50 %), Beamten, Lehrern, Zöllnern (25 %), Rentnern und Kriegsinvaliden (25 %) zusammensetzte, verschob sich dieses Bild bis nach dem Krieg in alle Richtungen.
Der Krieg brachte viele Veränderungen mit sich. Brinckmansdorf wurde von den Bombenangriffen der Alliierten nicht verschont. Im Unkel-Andrees-Weg fiel eine Fliegerbombe, die einige Häuser stark beschädigte und sogar ein Todesopfer (Hans Struck) forderte. Auch in anderen Familien wurden Verluste von Angehörigen beklagt, die an der Front den Tod gefunden hatten.
Das ganze Leben war mit Beginn des II. Weltkrieges umgekrempelt und darauf abgestimmt. Die Waren des täglichen Bedarfs waren nur noch auf Karten oder Bezugscheinen zu haben und dann auch nicht immer. Bei Butter, Fleisch und Heizmaterialien war das sogar bis in die frühen 60-er Jahre hinein der Fall.
Während der Bombenangriffe 1942 und 1943 hatten in den Abendstunden viele Bürger aus Angst ihre Wohnungen verlassen und waren nach Kösterbeck geflüchtet. Sie beobachteten aus der Ferne die brennende Stadt Rostock. Der schaurigste Anblick war der brennende und dann in sich zusammenbrechende Kirchturm der Petrikirche.
In einer Reihe von Häusern wurden Keller zu Luftschutzbunkern ausgebaut, um sich vor weiteren Fliegerangriffen in Sicherheit zu bringen. Ungefähr 200 m westlich vom "Schweizerhaus" entstand ein unterirdischer Bunker, der als Luftschutz für die Stadt vorgesehen war. Nach dem Krieg ist er teilweise gesprengt worden, so dass er nicht mehr betreten werden konnte. Wie sich später herausstellte, war die Sprengung nicht exakt vorgenommen worden. So geschah es, dass mit dem Neubau der Tessiner Straße zwischen Verbindungsweg und "Schweizerhaus" die Straße versackte und der Hohlraum unter der Straße mit etlichen Kubikmetern Beton aufgefüllt werden musste.
Mit dem Angriff auf die Sowjetunion wurde die Kriegsindustrie immer weiter ausgebaut, aber es fehlte an Arbeitskräften, so dass viele Sowjetbürger nach Deutschland verschleppt wurden, um hier unter widrigsten Bedingungen zu arbeiten. Für die Unterbringung diese Leute mussten Unterkünfte geschaffen werden, möglichst in der Nähe der Arbeitsstätten.
Im Höger Up wurden Baracken für die "Ostarbeiter" errichtet. Diese mussten täglich nach Rostock marschieren und im Heinkel-Werk in der Bleicherstraße arbeiten.
Gleich nach dem Krieg wurden die Baracken abgerissen, wozu die Brinckmansdorfer herangezogen wurden, meistens ältere Männer. Holz und eiserne Öfen wurden an die Bevölkerung verkauft.
In den letzten Apriltagen erreichten sowjetische Truppen aus Tessin kommend Brinckmansdorf. Die ersten Panzer rollten die Tessiner Straße entlang Richtung Stadt. Höhe Jan-Maat-Weg/Höger Up umfuhren sie eine Panzersperre aus Baumstämmen und damit einen großen Sprengkörper. Über den Mühlendamm wollten sie weiter ins Stadtzentrum. Eine Sprengladung unter der Schleusenbrücke zerriss den ersten Panzer mit seiner Besatzung. Erst 2011 wurden bei Bauarbeiten die Reste dieses Panzers und Skelette der gefallenen Soldaten gefunden. Sie bekamen nun endlich eine ehrenvolle Beisetzung.
Die übrigen Panzer der Vorhut fuhren weiter über den Petridamm. Die dortige Sprengladung war von beherzten Bürgern vorher unscharf gemacht worden. Am 1. Mai wurde die Stadt eingenommen. Häuser und Wohnungen wurden nach deutschen Soldaten und nazistischen Funktionären durchkämmt. Frauen und Mädchen versteckten sich, so gut sie konnten, um den Sowjets nicht in die Hände zu fallen. Sie beschmierten sich das Gesicht mit Ruß, um älter zu wirken. Es schützte sie nicht immer vor Übergriffen und Vergewaltigungen. Einige Verängstigte sahen als letzten Ausweg den Selbstmord.
Weil Ordnung und Sicherheit wie auch die Versorgung der Bevölkerung nicht gewährleistet waren – staatliche Stellen arbeiteten nicht mehr, verantwortliche Leiter waren in Richtung Westen abgehauen – versuchte die sowjetische Militäradministration mit Befehlen das Leben wieder einigermaßen in Gang zu bringen.
Als ich nach meiner Gefangennahme 1945 durch die Engländer und einer Tätigkeit als Landarbeiter in Schleswig Holstein endlich wieder mit meinen Angehörigen in Rostock Verbindung aufnehmen konnte, teilte mir mein Vater mit, dass ich noch etwas Geduld haben solle, nach Hause zu kommen. Für ehemalige Soldaten der Wehrmacht war die Gefahr immer noch groß, auch nach der Kapitulation festgenommen und nach Sibirien zur Arbeit abtransportiert zu werden. Zum anderen war die Erteilung von Lebensmittelkarten davon abhängig, ob man Arbeit nachweisen konnte. Sonst bekäme man nur die Karte mit der niedrigsten Zuteilung, womit man kaum existieren konnte. Viele Leute wurden auch zu Aufräumarbeiten herangezogen.
Ein Ausschnitt aus dem Brief des Vaters vom 3. Dezember 1945 beschreibt die schwere Zeit.
"Als erstes sage ich Dir, so gern ich Dich auch hier habe, aber bleibe bis zum Frühjahr dort. Dann hat sich wohl auch alles beruhigt und wir können mit aller Ruhe gemeinsam unsere übrig gebliebene Flasche Sekt trinken. (…) Denn hier bekommen alle, die nicht in Arbeit sind, eine Lebensmittelkarte: Für Sonstige also Nr. 6. Da bekommst Du 200 Gramm Brot, 7 Gramm Öl, 15 Gramm Nährmittel, 10 Gramm Zucker, 10 Gramm Quark und 5 Gramm Senf pro Tag. Für diesen Monat und fernerhin sollen Nr. 6 auch kein Fleisch mehr haben. Sonst gab es noch alle Woche 25 Gramm Fleisch. (…) Den Bauch haut man sich mit Kartoffeln und Wrucken morgens und abends voll, aber ohne Fett. Die Beine sind wie Fliegenstöcke und der Bauch zur Mittagszeit aufgetrieben. Ein Glück, dass Inge und ich von Mai bis August und Inge bis Oktober auf dem Lande gearbeitet haben. So konnten wir Lotte immer etwas mitbringen. Ob es rechtmäßig geschehen ist, spielte in dieser Zeit keine Rolle. Sieh einmal, wenn Du jetzt im Winter kämst, dann sind keine Kartoffeln zu haben, alles eingemietet. (…) Wir haben oftmals Kartoffeln nur mit Salz gegessen und das schmeckt bei diesem übergroßen Hunger prima. Ja, das kommt von dem fettlosen Essen, da merkt man nie wie viel man gegessen hat. Aber man isst egal nur Pellkartoffeln, weil man eben mit Kartoffeln haushalten muss. Als Nachtisch oder wenn keine Pellkartoffeln da sind, dann wird eine Futterwrucke abgeschält und gekaut. Wenn mir früher einer so etwas gesagt hätte, den hätte ich für verrückt erklärt. (…) Unsere Kochgelegenheit befindet sich jetzt im Stall, da haben wir einen Kachelofen aufstellen lassen, denn es gibt kein Gas und den halben Tag, manchmal auch den ganzen haben wir keinen Strom. Teilweise ist auch das Wasser abgestellt. Nun kannst du Dir vorstellen, wie schön wir aussehen, durch das immerwährender in den Stall laufen und dann keine Seife und keine Waschmittel. Manchmal nehmen wir einen Lappen mit Sand und dann scheuern wir die Hände damit."
Nach und nach kehrte einigermaßen Ordnung ein. Wie überall in der Stadt wurde in Brinckmansdorf ein "Bezirksältester" eingesetzt, der zusammen mit einer Sekretärin die Probleme des täglichen Zusammenlebens regeln sollte.
Auch die zentnerschwere Bombe an der Ecke Tessiner Straße/Jan-Maat-Weg war inzwischen weggeräumt, so dass die unmittelbaren Anwohner beruhigter waren.
Doch Ruhe kehrte nach Kriegsende noch nicht ein. So wurde der ehemalige Blockleiter der NSDAP Heilhecker erschossen und zunächst im Garten begraben. Andererseits gingen einige Deutsche mit Waffen durchs Dorf und schossen dabei im Utkiek 9 Henry Brockmann und dessen Sohn an, wobei Heinz Brockmann ein Auge verlor.
Die Bewohner hielten sich mehr oder weniger in der eigenen Wohnung auf, weil auch Plünderer am Werk waren, die hinter Kaninchen und Federvieh her waren.
Mit der Verpflegung war es nicht weit her und die Familien in Brinckmansdorf nutzten verstärkt den eigenen Garten. Soweit die Möglichkeit bestand, wurden Gemüse, Rüben und Kartoffeln angebaut, um den Hunger zu stillen. Tabak wurde selbst angebaut. Hühner und Kaninchen wurden gehalten, um den Lebensunterhalt zu sichern.
Doch damit nicht genug. In unmittelbarer Nähe zu Riekdahl befand sich im Herbst 1945 ein großes Feld mit Zuckerrüben, das wir bei Nacht und Nebel aufsuchten und so viele Zuckerrüben holten, dass genug Sirup gekocht werden konnte. Der Waschkessel, sonst zum Abkochen der Wäsche genutzt, erhielt jetzt die Funktion, Rübenschnitzel in Sirup umzuwandeln. Hierbei war die vom Vater im Brief erwähnte "Kochhexe", so wurden diese Öfen damals genannt, bei den stundenweisen Gas- und Stromabschaltungen von Nutzen.
Weil Lebensmittel nur in begrenztem Umfang zur Verfügung standen, gaben die Lebensmittelgeschäfte am "Weißen Kreuz" ihre Tätigkeit auf und die Bevölkerung musste ihre Einkäufe in der Stadt erledigen. Die Sprengung der Schleusenbrücke am Mühlendamm hatte die Verkehrsverbindung unterbrochen, es gab nur für Fußgänger die Möglichkeit, über die Schleusentore in die Stadt zu kommen. Da auch kaum Fahrzeuge unterwegs waren, fiel das Fehlen der Brücke kaum ins Gewicht. Später wurde ein provisorischer Weg über die Schleusenbecken fertig gestellt. Mit diesem Notbehelf musste man auskommen, bis 1949 eine neue Brücke gebaut wurde und ab 1950 eine Straßenbahn wieder in Betrieb genommen werden konnte. Die Linie 3 führte jedoch nur bis zum Verbindungsweg, weil die Eisenbahnbrücke in der Tessiner Straße zu schmal war und sicher auch nicht die Tragfähigkeit hatte. Als Ersatz wurde eine Buslinie zunächst bis zum "Schweizerhaus", dann bis zu den "Kriegerheimstätten" und später bis Riekdahl eingerichtet.
Aus polnischen und tschechischen Gebieten wurden die Deutschen ausgewiesen und kamen zum großen Teil in die sowjetische Besatzungszone. Um die Vertriebenen unterzubringen, musste Wohnraum bereitgestellt werden. Dazu wurden in den Häusern freie Räume beschlagnahmt und viele Leute vor allem aus dem Sudetenland untergebracht. Meistens waren es ältere Leute und Frauen mit Kindern. Die Männer waren ja im Krieg gefallen oder in Gefangenschaft geraten. Für die Zugezogenen, die Flüchtlinge und Vertriebenen, entstanden u. a. im Utkiek und Jan-Maat-Weg Wohnstätten in Leichtbauweise, auch wenn die Materialbeschaffung äußerst schwierig blieb.
Lange vor dem Krieg hatten wir im Ort bereits einen Hausarzt. Mit dem Krieg wurde auch er eingezogen und musste als Oberstabsarzt seinen Dienst machen. Aber er kam heil wieder nach Hause und übernahm seine Praxis. Dr. Rüther war ein Arzt, der Tag und Nacht für seine Patienten da war. Mit einem Fahrrad fuhr er bis in die umliegenden Dörfer. Für seine unermüdliche Tätigkeit wurde er später als "Verdienter Arzt des Volkes" ausgezeichnet.
Doch es fehlte in den Jahren an ausreichend medizinischen Mitteln, um die Ruhr-, Typhus- und Diphtherie-Erkrankten mit den notwendigen Medikamenten zu versorgen, geschweige denn Vorbeugungsmaßnahmen zu treffen. Selbst Dr. Rüther konnte seinem an Typhus erkrankten Sohn nicht helfen, er starb wie viele andere an den Folgen der Infektion.
In den späteren 40-er Jahren bildeten sich Wohngebietsausschüsse, die die Interessen der Brinckmansdorfer gegenüber der Stadt wahrnahmen. So wurden die Bürgersteige befestigt, eine Arbeitsgemeinschaft schaffte es, dass eine Schmutzwasserleitung im nördlichen Teil gelegt wurde. Bis in die 70-er Jahre hatte jedes Haus nur eine Kleinkläranlage, die zweimal jährlich abgepumpt werden musste. Damit auch der südliche Teil angeschlossen werden konnte, musste eine Durchörterung der Tessiner Straße, die unterirdische Verlegung der Schmutzwasserleitung vorgenommen werden. Alle diese Arbeiten, auch die Pflege der Wege des Stadtparks, wurden bis in die 80-er Jahre in Eigeninitiative der Brinckmansdorfer durchgeführt.
Damit die jüngeren Kinder nicht mehr den weiten Weg zur Schule in der Stadt zu Fuß zurücklegen mussten, wurden zwei leer stehende Baracken in der Parkstraße abgebaut und im Hüerbaasweg als Schule bis zur 4. Klasse und als Kindergarten in Betrieb genommen.
Erst in den 60-er Jahren wurden Mittel für den Bau einer Polytechnischen Oberschule freigegeben.
Der ehemalige Kolonialwarenladen wurde zum Konsum umfunktioniert, Bäcker und Fleischer erhielten wieder eine Existenzgrundlage, eine Postfiliale wurde geschaffen. Die Versorgung der Brinckmansdorfer verbesserte sich in den 50er-Jahren nach und nach.
Auch die Industrie fasste Fuß in Brinckmansdorf. Eine Autowerkstatt entstand im Kösterbecker Weg in der ehemaligen Kaffeerösterei von Reimer und in der Tessiner Straße eine Autolackierwerkstatt.
Seit den 90-er Jahren fielen die kleinen Läden den neuen Supermärkten mit ihren großen Hallen zum Opfer, ein Gewerbegebiet entstand, Tankstellen wurden gebaut und der Bau von modernen Eigenheimen legte enorm zu. Dazu wurden die ehemals landwirtschaftlich genutzten Flächen von Kassebohm und Riekdahl als Bauland freigegeben, denn die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sind in den 20 Jahren nach der Wende eingegangen.
So entwickelte sich Brinckmansdorf zu einem Rostocker Ortsteil mit fast großstädtischem Charakter, mit einem direkten Anschluss an die Autobahn A19, die gen Süden führt.