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Einige markante Tage und Ereignisse im Leben vergisst niemand,
auch wenn diese weit zurück liegen

Horst Zöllick (Jg. 1935) (ergänzt durch BB)

    Es war der 30. April 1945, als wieder, am Tage und in der Nacht, die Flüchtlingstrecks an unserer Haustür am Petridamm 13d vorbei zogen.  Das ging schon längere Zeit so, aber in dieser Nacht zum 1. Mai 1945 bekamen wir keinen Schlaf, weil jetzt zunehmend Soldaten mit Fahrzeugen aller Art und zu Fuß in Richtung Westen flüchteten. Ein Leutnant der Luftwaffe, der bestimmt schon längere Zeit kein Flugzeug mehr gesehen, viel weniger selbst geflogen hatte, war mit seinen Männern auf der Flucht und machte eine kurze Pause bei uns. Meine Mutter machte noch Tee und dafür gab es eine Tafel Fliegerschokolade. Die wurde gleich von Mutter eingeteilt, damit ich nicht alles sofort verzehrte.
    Der Leutnant berichtete, dass die Russen schon in Stralsund einmarschiert waren und er gerade noch flüchten konnte. Er meinte, “Haut bloß ab, morgen ist der Russe hier, denn es kämpft kein Soldat mehr. Die Russen rücken täglich 70 km und mehr mit ihrer Front vor. “
    Aber wohin sollten wir? Verwandte weiter westlich hatten wir keine, nur meine Großeltern wohnten weiter westlich: ca. 400 m auf dem Petridamm Richtung Westen.
    Der Volkssturm und etwas ältere Jungen von der HJ waren schon seit einigen Tagen mit dem Bau einer Panzersperre in Höhe der Maschinenfabrik Lange beschäftigt. Das war das letzte Aufgebot um den „Endsieg“ zu erreichen, wie es in den Durchhalteparolen in der Zeitung stand und auch immer wieder im Radio zu hören war.
    Meine Mutter hatte sich vom Leutnant anstecken lassen und packte den Handwagen mit ein paar Habseligkeiten voll, darunter auch der einzige schwarze Anzug vom Vater, um zu Vater in das Lazarett in die Strempelstraße zu ziehen. Ich war davon nicht begeistert musste aber gute Miene zum bösen Spiel machen.
    Gegen 10 Uhr am 1. Mai 1945 zogen wir los und kamen an der Panzersperre noch gut vorbei.
    Am Verbindungsweg standen, nein liefen zwei „Kettenhunde“ von der Feldgendarmerie hin und her und  schrien sich die Seele aus dem Leib,: „Zurück, zurück die Brücke wird gesprengt.“ Doch keiner hörte auf die beiden, weder die flüchtenden Soldaten, noch die vielen Flüchtlinge. So viele Soldaten hatte ich noch nicht gesehen, in den Wiesen am Petridamm bis nach Riekdahl und im Verbindungsweg, Soldaten über Soldaten.
    An der Ecke Verbindungsweg/Petridamm lagen im Graben massenweise Karabiner, Maschinengewehre und Munition. Wenn auch keiner auf die beiden hörte, aber einer doch, nämlich ich, weil ich nicht gerne in die Luft fliegen wollte. Da half auch der Hinweis meiner Mutter nicht, die anderen gingen doch auch.
    Ich konnte mich mit meiner Angst durchsetzen und wir zottelten mit unseren Handwagen zurück. Aber was nun, die Panzersperre war in der Zwischenzeit geschlossen worden und wir konnten mit unseren Handwagen nicht mehr zurück.
    Nun wurde auch schon mit Panzer und Geschützen in die Stadt geschossen und das hörte sich nicht so gut an.
    Jetzt zur Oma Brüsch in Nr. 6. Ja aber so einfach war das nicht. Die ging in den Bunker bei Kröppelin (Petridamm 19). Ackerbürger hatten sich Privatbunker auf ihren Gehöften bauen lassen und mussten auch in der Nähe wohnende Bürger aufnehmen. Bauer Lange (Petridamm 12) hatte ebenfalls so einen Bunker und der war so überfüllt, dass wir nicht mehr hineingelassen wurden. Der Handwagen mit Vaters schwarzen Anzug und den übrigen Sachen wurde auf die Scheunentenne gestellt und dann gingen wir querfeldein nach Hause, in Begleitung von Opa Brüsch. Es heulte und knallte an allen Ecken. Aber was war das? Vor der Panzersperre stand ein großer Möbelwagen aus Stettin, der nicht mehr weiter Richtung Westen gekommen war, beide Türen auf und ich traute meinen Augen nicht: Voll mit Lebensmitteln!
    Also nichts wie hin und raufgeklettert. Meine Mutter schrie, ich sollte kommen, aber ein paar Päckchen Süßstoff steckte ich noch schnell ein. Es waren noch viel mehr schöne Sachen im Wagen, aber es wurde doch zu gefährlich für uns, denn der Russe rückte näher und die Granaten schlugen auch schon in der Nähe ein. Also ab nach Hause und in den Luftschutzkeller.
    Als wir im Kellergang waren gab es eine heftige Detonation und mein Opa flog durch den Gang bis an die Hoftür. Wir waren schon um die Ecke gewesen und kamen deshalb mit dem Schrecken davon. Opa war Soldat im 1. Weltkrieg gewesen und meinte sofort, das war eine Sprengung.
    Wie wir später erfuhren wurde ein Munitionszug gesprengt und fast zu gleicher Zeit die Brücke am Mühlendamm, als sich ein T-34-Panzer der Russen auf der Brücke befand. Weitere tote Soldaten in diesem Krieg, der doch schon fast beendet war. Die Petribrücke wurde, wie man später erfuhr, durch das aktive Eingreifen von Antifaschisten gerettet.
    Am Mühlendamm wurden die Sowjetsoldaten die in dem Panzer getötet wurden, bis zur Einrichtung des Ehrenfriedhofes am Puschkinplatz in unmittelbarer Nähe der Brücke beigesetzt.
    Wir saßen im Luftschutzkeller und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Aber nach ca.  einer Stunde trat Ruhe ein und wir wagten uns auf die Strasse. Meine Mutter meinte nur: „Jetzt gibt es keinen Fliegeralarm mehr und du kannst durchschlafen.“
    Alle waren gespannt auf die Russen, die als Bolschewiken mit einem Messer im Mund immer auf Plakaten abgebildet waren.
    Als wir uns auf der Strasse bewegten rückten auch schon die ersten Panzer an, aber nicht von Stralsund kommend sondern vom Verbindungsweg. Jeder zweite Telegrafenmast wurde umgefahren und hing danach an den Drähten.
    Erstmals sahen wir russische Soldaten in natura mit Chapka und Maschinenpistole, aufgesessen auf den Panzern. Dazu jede Menge Pferdegespanne, die so genannten Panjewagen, jeweils mit mehreren Soldaten besetzt.   Die sahen ganz normal aus, nur ihre Sprache konnten wir nicht verstehen. Zu uns Kindern waren sie sehr freundlich und wollten sich immer mit uns unterhalten. Einige konnten ein paar Worte deutsch. Oft hörten wir „Hitler  kaputt“.
    Bei der Kneipe „Alt Reichskanzler“ (Petridamm 17) ging ein Panzer T-34 mit Schussrichtung Riekdahl in Stellung. Wir ahnten nichts und gingen näher ran, doch die Russen winkten, dass wir zurückgehen sollten und riefen immer: „Dawai, Dawai“.
    Mit einem gewaltigen Krach ruckte der Panzer nach hinten und schoss in Richtung Riekdahl, auf eine am Ortseingang stehende Lokomotive. Diese stand etwas verdeckt hinter einem Hügel (Mühlenberg) und von dort wurden die Russen, als sie auf dem Verbindungsweg fuhren, beschossen. Auf der Lok waren SS-Leute, die noch kämpften. So schnell waren wir noch nie in unseren Luftschutzkeller verschwunden wie bei dem ersten Schuss des T-34.
    Eine Hauseinwohnerin kam blutverschmiert in den Keller und wir dachten sie wäre durch den Schusswechsel verletzt, aber ihr war nur ein Ziegel, der sich vom Dach bei Bauer Lange gelöst hatte, auf den Kopf gefallen. Die Schiesserei dauerte ca. 20 Minuten und wir nahmen an, in Riekdahl steht kein Haus mehr, aber es waren nur einige Häuser in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Lok war mehrfach getroffen und sah, als wir sie später besichtigten, aus wie ein „Schweizer Käse“.
    Danach wurde es erstmals unangenehm. In den Keller kam ein Offizier mit Dolmetscher und befragte die Erwachsenen nach Hitleranhängern und Faschisten. Im Keller war ein Nachbar, der im kriegsfähigen Alter war, mit seiner kleinen Tochter auf dem Arm. Dieser wurde befragt warum er nicht Soldat wäre. Er war verwundet worden, ihm waren die Zehen an der Ostfront in Russland erfroren.
    Der Offizier wurde wütend und meinte er würde ihn erschießen. Er griff schon zu seiner Pistole und fluchte laut auf Russisch. Wir konnten immer nur verstehen „Du Faschist, Du Faschist“. Der Dolmetscher konnte ihn beruhigen und er übersetzte, er werde nur verschont weil er ein kleines Kind auf dem Arm hatte. Der Nachbar war bei der Wehrmacht gewesen, sein Vater war Kommunist und einer der Ersten, die im Mai 1945 für Ordnung sorgten.
    Mit Messer im Mund haben wir übrigens keinen Russen gesehen, im Gegenteil wir als Kinder hatten bei ihnen sehr oft Freiheiten, die schon sehr weit gingen.
    Die größte Freude kam auf wenn wir mit dem Panjegespann mitfahren und die Zügel des Pferdes halten durften.
    Im Petridamm Nr. 11 wurde die Kommandantur der GPU eingerichtet und arbeitsfähige Frauen mussten dort kochen und die Unterkünfte reinigen. Meine Mutter gehörte auch dazu. Seit dieser Zeit war die Verpflegung für mich gesichert, weil meine Mutter Angst hatte, musste ich immer mit, denn die Schule war noch nicht wieder angefangen. Leider ging diese Zeit - für mein Verständnis - viel zu schnell vorbei.

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