Geschichte/
 Erinnerungen
  1945 (Zöllick)
  Brinckmansdorf
bis 1932 (Flick)
  Brinckmansdorf
ab 1933 (Flick)
  Brinckmansdorf 1921-80 (Henneberg)
  Flakzug Kassebohm
  Im Einsiedler
  Kaffee-Reimer
KIB Nord Rostock
  Wilhelm Klöcking
  Leben im Roggentiner Weg (Lemke)
  Neuanfang (Naedler)
  Wilhelm Scheel -
Mein Leben
  Schule 1945-56
  Zwangsarbeiterlager
bitte klicken
Prospekt von 1966
 
 
Die Autozentrale oder Irgendwas mit Autos
Harri Engelmann

Große Autos
Mitte der sechziger Jahre vollzog sich ein Wandel in großen Teilen der Welt. In England sprang die „Beatmaschine“ an, deren Stakkato brachte die Jugend in Wallung. Die Beben drangen über Ländergrenzen bis in die hintersten Provinzen. Selbst in Rostock verwandelten sich Rhythmen in Ungehorsam. Die ersten Langhaarigen tauchten in der Stadt auf. Es war die Zeit, als auch ich mich schwer tat mit dem Erwachsenwerden. Mein Traum von der Seefahrt ließ sich nicht einlösen, und aus einer Lehre als Fernmeldemonteur wurde nichts. Ich stocherte provozierend lustlos in Telefonen herum, bis es allen reichte. Ich unterlag der Täuschung, dass die Welt mich auf dem Kieker hatte.  Als mein Vater fragte, was zum Teufel ich mir denn als Beruf vorstellen könne, antwortete ich: „Irgendwas mit Autos.“ Denn auch diese Veränderung war nicht zu übersehen: In Rostock verschwanden so nach und nach die letzten Pferdefuhrwerke aus dem Straßenverkehr, während die Anzahl der Kraftwagen zunahm.
So kam es, dass ich beim KIB Rostock eine Lehre als Autoschlosser begann. Nach monatelangem Feilen und Sägen, Bremsbacken entrosten, Bremsbeläge vernieten, wurden wir Lehrlinge endlich in Brinckmansdorf auf die einzelnen Bereiche verteilt. Der Stammbetrieb hieß schlicht Werk 1 und lag am Kassebohmer Weg. Dort gab es die Skoda-Abteilung, eine Wartburg-Abteilung, benannt nach den jeweiligen PKW-Typen, eine LKW-Halle, eine Lackiererei, den Hilfsdienst, einen Motorenbau, einen Zylinderschleifer und die Kaffee-Rösterei Reimer – ein privates Unternehmen, das nichts mit dem KIB zu tun hatte und irgendwie konträr zu dieser Abgas- und Motorenölwelt stand. Denn gelegentlich legte sich über die strengen technischen Gerüche ein nahezu exotischer Duft nach Kaffeebohnen, und in der Luft schwebten Teilchen wie Spreu herum: Die Reimers rösteten.
Von dem Beruf eines Autoschlossers hatte ich bizarre Vorstellungen: im Kittel herumstolzieren, die Brustasche voller kleiner Schraubenzieher, mal hier ein bisschen am Vergaser schrauben, dort ein kleines Kabel befestigen. Spätestens als ich in der LKW-Halle landete, verpuffte diese Illusion. Ich war mir nicht sicher, was mich mehr beeindruckte, die vierschrötigen Kerle um mich herum oder die Lastwagen: mit geöffneten Motorhauben, die wie aufgerissene Rachen wirkten, aufgebockt, zum Teil ausgeweidet, mal ohne Achsen, mal mit eingedrückter Fahrkabine, mal mit zerknautschten Kotflügeln. Verglichen mit den heutigen Werkstätten, die oft sehr sauber, übersichtlich, mit ausreichend Werkzeug versorgt sind, zudem über allerlei elektronische Hilfsmittel verfügen, würde dieser Ort auf Heutige wohl wie eine mittelalterliche Feldschmiede wirken.
Trotz der großen Hallenfenster waren die Lichtverhältnisse diffus. Ständig wurden Fahrzeuge heraus und wieder hereingefahren, was dauernd Absprachen erforderte: Gruben abdecken, Schweißgeräte aus dem Weg nehmen, Sauerstoffflaschen wegrollen. Die Luft war von Abgasen durchzogen und von Flüchen erfüllt. Irgendwie stand man durch die Enge immer im Weg. Ich war 17 Jahre alt und natürlich permanent aufgeschreckt und dauernd am Zurückweichen. Brachte es aber schließlich instinktiv fertig, mich in dieser groben Männerwelt als „gewieften Hund“ zu verkaufen. Ich lernte fluchen, rauchen, ausspucken und Schnaps trinken. An besonderen Tagen, meistens an Freitagnachmittagen, wurde die hintere Ladeklappe eine LKWs heruntergelassen: fertig war der Tresen. Getrunken wurde aus Schaugläsern von Dieselpumpen. Einmal brauchte ich für meinen Heimweg nach Reutershagen fast 5 Stunden.
Aber in erster Linie wurde tüchtig gearbeitet. Renitente Jugendliche schickte man wohl früher in katholische Lehranstalten oder auf Kadettenschulen. Rückblickend hatte ich  in den Werkstätten eine ähnlich strenge Erziehung genossen. Kollegen, die oft zu spät kamen, wurden entweder verspottet oder verachtet. Gegen Faulpelze gingen die Leute hier kollektiv vor. Es blieb einem nichts anderes übrig, als die Standards einzuhalten und schnell und gut zu arbeiten. Und unter damaligen Verhältnissen einen Lastkraftwagen zu reparieren, war eine schwere Arbeit. Jedes Ersatzteil hatte sein Gewicht, und die großen Blattfedern waren nicht nur schwer und sperrig, sie mussten auch noch aus dem oberen Stockwerk geschleppt werden, das nur über eine enge Treppe erreichbar war. Im Gedächtnis eingebrannt hat sich bei mir die Arbeit an einem Lastwagen der Abdeckerei. Er war mit einem Kadaveraufzug ausgerüstet, was einem egal sein könnte. Wenn man nicht gerade unterm Wagen schraubte, während einen die herabhängenden feuchten Tierhaare kitzelten.
Eingeprägt haben sich bei mir auch die Menschen. Der ewig lustige Tschechen-Karl zum Beispiel, der so hieß, weil er vermutlich von dort stammte. Er sprach ein perfektes Deutsch mit leichtem Akzent. Dadurch klang alles, was er sagte, umso witziger.  Der Bereichsleiter mit seinen enorm breiten Schultern, dem drohend eingezogen Kopf, eine Haltung, die nichts über seine geradezu väterlichen Fürsorge verriet, die ihn eigentlich ausmachte. Der sich aber aus dem Stand in einen Waldschrat verwandelte, dass man lieber zurücktrat. Ausgelöst dadurch, dass ihm etwas gegen den Strich ging.  Manchmal nur deswegen, weil einer den „Schwedenschlüssel“ nach getaner Arbeit nicht wieder in seinem Büro ablieferte. Dort lagerte dieser Import - Drehmomenten-Schlüssel in einem Koffer, der wie ein Geigenkasten aussah. Der einzige in der gesamten Halle! Der schweigsame Schweißer, der dauernd eine Brühe schlürfte, von der behauptet wurde, sie schütze vor giftigen Dämpfen. Dann dieser alte Schlosser mit dem roten Gesicht, der ein Alkoholproblem hatte, was aber offenbar toleriert wurde, weil er gute Arbeit leistete. Gab es aber wieder mal einen „Feiertag“ mit Ladeklappe und Schaugläsern, passierte es hin und wieder, dass er die Contenance verlor. Dann erzählte er uns Lehrlingen, wir waren hier zu dritt, seine Kriegsgeschichten. Er war bei der Waffen-SS gewesen, zeigte uns sein Blutgruppenzeichen, erzählte uns, wie seine Einheit sich aus einem Überfall griechischer Partisanen freigekämpft hatte. „Tack, tack, tack …“ lautmalte er das Rattern eines Maschinengewehrs. Wir kicherten, und der Meister kam, jagte uns weg, stauchte den „Kriegshelden“ zusammen.  Dann dieser uralte kleine Kerl, den sie alle Jonny nannten, und der für den ganzen Betrieb das spezielle Werkzeug unter sich hatte. Auch die Waschpaste, die man sich bei ihm erbetteln musste. Langte man zu tief in die Dose, sprang er herum wie Rumpelstilzchen und zeigte und rief, was er unter einer Portion verstand: „Haselnussgröße, versteht ihr, Haselnussgröße, verdammt noch mal!“

Kleine Autos
Und erneut gab es eine Rochade – ich fand mich am Weißen Kreuz wieder, dem Werk 2, nur einen Steinwurf entfernt vom Werk 1, dennoch eine gänzlich andere Welt. Während man sich in der LKW-Halle in einer großen Gemeinschaft eingebunden fühlte, begriff man sich hier eher als eine Gruppe von Individualisten. Natürlich hatte das auch damit zu tun, dass an einem PKW nicht gemeinschaftlich gearbeitet wurde. Während Lastwagen oft tagelang in der Halle standen, bis die Reparaturen erledigt waren, fuhr man hier die Wagen morgens an den Arbeitsplatz und oft in einer Stunde oder nachmittags repariert wieder hinaus. Dabei handelte es sich vorwiegend um einen Autotyp: den Trabant – Plastikbomber, Kugelporsche, überdachte Zündkerze, Pappe. So lauteten die Spottnamen für den „DDR-Volkswagen“, die ihm erst später angehängt worden sind. Damals war er einfach ein passabler Kleinwagen, den man gerne besessen hätte. Rückblickend sehe ich die Ingenieurskunst, die in diesem kleinen Auto steckt. Denn die Vorgaben für die Entwickler waren offenbar die: ökonomisch zu sein, preiswert und dennoch irgendwie bequem und familientauglich. Da das Auto nicht besonders groß war, mussten die Aggregate fein ausgeklügelt untergebracht werden. Wenn ich heute bedenke, dass ich mit meiner Familie und mit über 100 Stundenkilometern in einem Auto fuhr, dessen Motor zerlegt fast in einer Einkaufstüte Platz fand, kommt es mir komisch vor. Ein Zwei-Zylinder-Zweitaktmotor, ein Getriebe, beides ruhte auf einem Hilfsrahmen, der auch die Lenkung aufnahm, zwei Antriebsachsen vorn, zwei Dreieckslenker hinten, je eine Vorder- und Hinterfeder, vier Stoßdämpfer, vier Räder, eine Karosserie und aus.
Damals nahm man das als gegeben hin, Werkstätten mussten wohl so aussehen: Halle an Halle, windschief, blätternder Putz, klemmende Schiebetüren, Werkbänke, dunkel von Öl- und Fettresten, quietschende uralte Schraubstöcke, unförmige Wagenheber, Brettgestelle, auf die man sich rücklinks legte, um unterm Wagen zu schrauben. Es hieß, vor dem Krieg sei in diesen Hallen Bohnerwachs gelagert worden. Aber der Krieg war weit weg. Und wir waren von einem Gefühl beherrscht, das die meisten Jugendlichen empfinden: dass mit ihnen eine neue Zeit beginnt. Zudem lief dieses Empfinden mit einer günstigen Entwicklung synchron: Den Leuten ging es zusehends besser, sie konnten sich Autos und Fernseher leisten, sogar Neubauwohnungen beziehen. Und da die meisten Autoschlosser sehr jung waren, überwog hier eine humorige Laune. Der Bereichsleiter wurde aus unerfindlichen Gründen Kanzleirat genannt, sein Büro hieß Kanzlei. Es gab einen Typen, der in den Pausen Zaubertricks vorführte. Den nannten alle Blitzmonteur. Er arbeitete sehr schnell, so schnell, dass er einmal vergaß, die Räder festzuziehen. Der Kanzleirat, der mit diesem Auto eine Probefahrt machte, erzählte diese Geschichte noch monatelang herum: Wie ihn während der Fahrt ein einzelnes Rad überholte. Und er sich dachte, verdammt noch mal, wo komme das Reserverad her? War es aus dem Kofferraum gehüpft? Nein, er fuhr auf 3 Rädern und bemerkte es zum Glück rechtzeitig.
Die meisten der jungen Kerle kamen von den Dörfern oder kleineren Orten aus der Umgebung: aus Bentwisch, Laage, Schwaan usw. Oft Söhne von Bauern, die schon mit acht Jahren ihre Fahrräder repariert hatten, mit zwölf Mopedmotoren zerlegten. Da hier nach einer Norm gearbeitet wurde, musste man schnell sein, um Geld zu verdienen. Außerdem herrschte ein stiller sportlicher Wettbewerb um die Gunst des Kanzleirats, der es liebte, wenn er dank seiner „Athleten“ pechschwarze Zahlen an die Direktion melden konnte. Für mich war es schwer, mit diesen talentierten Burschen mitzuhalten. Eigentlich stammte ich von der Fraktion jener, die zwei linke Hände hatten. Aber das Leben hatte mich an diesen Platz gestellt, an dem es durchzuhalten galt. Außerdem trieb mich mein Ehrgeiz. Im Gegensatz zu den LKWs war hier alles winzig. Dennoch besaß kein Teil ausreichend Platz. Alles musste „heraus gefädelt“ oder „implantiert“ werden. Während die Motoren anderer PKW-Typen mit einer Vorrichtung aus dem Motorraum gehoben werden konnten, ging das beim Trabant nicht. Lösen, rackern mit dem Montierhebel, vom Getriebe wegziehen und in einer Körperhaltung anheben, bei der jeder Physiotherapeut die Augen geschlossen hätte.
Neben dem Kanzleirat gab es hier die Brigadiers. Ihnen unterstanden etwa ein halbes Dutzend oder mehr Schlosser, die jeweils zusammen in einer dieser Hallen arbeiteten. Dann noch zwei Meister, die Fahrzeuge der Kunden entgegennahmen. Es gab einen uralten Schweißer, einen sogenannte Pegeltrinker, der hin und wieder sein Limit überschritt. Es war riskant, sich von ihm etwas schweißen zu lassen. Meistens waren es Kleinigkeiten: Winkel für Auspuffhalter anbringen, irgendetwas erwärmen, so dass man es formen konnte. Oft war das Teil danach unbrauchbar. Dann tobte er los – man hätte es nicht richtig in die Flamme gehalten. Und überhaupt wären unsere Köpfe nur zum Haareschneiden zu gebrauchen! Ein Kraftfahrer, der den Schleppwagen fuhr, wohnte fast auf dem Gelände. Er war gewissermaßen auch der Hausmeister. Er kümmert sich um alles, sogar darum, dass im Sommer nach Dienstschluss die oberen Kippfenster der Tore offenstanden. Das tat er für die Schwalben, die unentwegt über unsere Köpfe hinweg schossen, hin zu ihren Nestern, die über den Werkbänken klebten. Später ging er in Rente. Und nicht viel später war er tot. Und als wir an einem Montag die Tore öffneten, lag der Boden voller toter Schwalben. Niemand hatte daran gedacht, die Fenster offen zu lassen.
Untersucht man die wahren Motive unserer Handlungen, erschrickt man vermutlich über deren Banalität. Manchmal, wenn ich am Boden hockte,  die Arme bis zu den Ellenbogen fettverschmiert, um mich herum Dreck und ausgebaute, verschlissene Fahrzeugteile, schaute ich zu einem der Meister, die über den Hof liefen oder mit Kunden schwadronierten: ordentliche Frisuren, gepflegte saubere Hände, dunkelblauen Dederon-Kittel, in deren Brusttaschen neben  blitzenden Kugelschreibern auch diese kleinen Schraubenzieher steckten, die mir für diese Dienststellung unerlässlich zu sein schienen. Im  Zeitraffer sähe der weitere Fortgang so aus: Armeedienst, viel Zeit zum Sinnieren, Schreiben an die Kaderleitung meines Betriebes, der nunmehr IKN hieß: Instandsetzungskombinat Nord, mit schwülstigem Inhalt und sozialistischen Grüßen und mit der dringenden Bitte, ein Meisterstudium machen zu dürfen, gewürzt mit der leichten Drohung, mich nach einem anderen Betrieb umzusehen, falls man mich daran hindere, mich zu qualifizieren. Und es dauerte gar nicht mal so lange, da stolzierte ich ebenfalls in einem dunkelblauen Dederonkittel herum.
Die Reparaturannahme befand sich in einem barackenartigen flachen Gebäude. Spitzenzeiten waren in der Frühe und am Nachmittag. Dann war der kleine Raum voller als manche der heutigen Arztpraxen. Die absolute Stoßzeit, die Krönung des Menschenstaus, vollzog sich an den Freitagen, wenn die Fahrer ihre Autos abholten. Getoppt allerdings durch die Tage vor Ostern, Pfingsten und Weihnachten. Es kam vor, dass die Kunden bis zum Tor hinaus anstanden, eine Schlange, die in ihrer Länge bis hin zur Kreuzungsmitte gereicht hätte, sich aber des Verkehrs dort wegen auf dem Hof kringelte. Natürlich war ich am Anfang unsicher. Die Kunden waren gestandene Männer, einige wirkten sehr gebildet, und wenn ich nach und nach ihre Namen aufrief, wusste ich manchmal nicht, was mich mehr beeindruckte, ihre Titel oder ihre Goldrandbrillen. Wenn es nötig war, machte ich mit ihnen Probefahrten. Oder ich fuhr ihre Wagen in die sogenannte Grubenhalle – ein Gebäude an der Nordseite, das in seinem Innern mit sogenannten Gruben ausgestattet war, mannshohe Laufgräben, schmaler als die Spurweite der Autos. Die Rollbahn war als Auffahrt abgeschrägt. Sie war mit einem leichten Schwung zu nehmen. Dann stieg man mit dem Kunden aus  und gelangte schließlich leicht gebückt  unter das jeweilige Auto.
Es gab Männer, die schwer beeindruckt waren von dieser Unterwelt und deren Zerklüftung. Da ich das alles zur Genüge kannte, die Aggregate abgebaut, zerlegt, und wieder angebaut hatte, und das immer und immer wieder und über Jahre hinweg, war ich natürlich der Herrscher in diesem kleinen Universum. Was meinem Selbstvertrauen gut tat. Zugegeben, es war eine kleine Welt, die ich überschaute, dafür aber bald vollkommen verstehen lernte. Das ging zwei, drei Jahre so ohne große Zwischenfälle. Sicher, es gab Ärger, aufgebrachte Kunden, deren Fahrzeuge nicht rechtzeitig fertig geworden, oder denen die Rechnung zu hoch ausfielen. Aber am Ende der Woche war alles wieder gut, und montags wurde der Motor aufs Neue gestartet. Der Kanzleirat, so ein harter Hund er auch gelegentlich war, hatte ein gutes Gespür dafür, die Truppe bei Laune zu halten. Mal feierte die Belegschaft in der exquisiten „Rostocker Jägerhütte“, einem Restaurant im Wald, das Wildbret anbot. Oder er setzt die Mannschaft in einen Bus und fuhr mit uns nach Warnemünde. Dort hatte er im Hotel „Neptun“ die Broiler-Gaststätte gemietet. Die wurden einfach für geschlossen erklärt, während wir bis Mitternacht feierten. 
Rückblickend sieht man, dass das Leben oft die Gangart wechselt, mal linear konstant, mal hoppelt es, es gibt Vollbremsungen und rasante Kurvenfahrten. Damals am Weißen Kreuz gefiel mir meine Arbeit so gut, dass ich weder an die Zukunft dachte, noch an Veränderung. Ich schloss morgens die Reparaturannahme auf, schloss sie abends wieder zu – immer mit diesem guten Gefühl, die Räder dieser Stadt zum Rollen gebracht zu haben. Heute sehe ich die Zeichen, die vermutlich nichts bedeuteten, die sich mir aber als Omen einer Zeitenwende einprägten. Eine Stockenten-Mama spazierte über die Kreuzung, hinter ihr die Entenküken und um sie herum die haltenden Autos. Die Schlosser kamen aus den Hallen, um sich das anzusehen. Dort standen sie mit uns und den Kunden, rauchten und starrten auf die unbekümmerten Tiere.  Zwei Tage später bekamen wir einen neuen Kollegen: einen Hilfsarbeiter. Im Rahmen der Inspektionen, die damals Durchsichten genannt wurden, wechselte er bei den Fahrzeugen das Getriebeöl und schmierte die Achsen ab. Er wusch sich nie die Hände, ging zum Feierabend im Arbeitsanzug und mit schwärzlichen Fingern durchs Tor. Als ich ihn zur Rede stellte, mehr aus Neugier, wieso er sich nie die Hände wasche, schaute er mich mit seinen dunklen Augen lange an. Dann räusperte er sich und meinte, dass das nicht nötig sei, weil ihn sein Bruder mit dem Traktor abhole. Er kam eine Woche lang pünktlich zu Arbeit. Dann blieb er fern. Zwei Tage später tauchte einer von der Kripo auf. Ich sollte ihm den Spind des Hilfsarbeiters öffnen. Aber darin war nur seine Werkzeugkiste. Als der Polizist meinen fragenden Blick bemerkte, sagte er, dass der Junge tot sei. Er habe sich im Wald aufgehängt. Weil seine Freundin nicht schwanger sei, wie sie ihm zuvor versichert habe. Der Kripomann lacht kurz auf, dann hüstelte er und sagte, dass andere sich meistens umbrachten, gerade weil ein Kind unterwegs sei. Und noch seltsamer sei gewesen, dass seine Arme und Hände vor Schmutz starrend an ihm herunterbaumelten.

Autos und Menschen
Und drei Tage später bekam der Kanzleirat einen Herzinfarkt. Es geschah, als er mit einem Kunden auf Probefahrt war. Der reagierte prompt und fuhr zur Notaufnahme. Das rettet vermutlich sein Leben. Er wurde auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Ich hatte damit noch tagelang zu tun:  ein Kerl wie ein Baum, knickt urplötzlich zusammen, kann nicht mal mehr den Arm heben.  Doch schon erreichte mich die nächste Nachricht: Der Umzug der gesamten Trabant-Abteilung stand bevor. Gegenüber dem Hauptbetrieb war seit geraumer Zeit gebaut worden – eine große Halle mit einer ebenso stattlichen Reparaturannahme. Nun, 1975, war es soweit. Seit wir Kombinat geworden waren, hatte sich bereits einiges verändert. Nicht nur die Betriebsküche war besser geworden; es hatte Investitionen in technische Ausrüstung gegeben, außerdem war ein Bürotrakt errichtet worden, der in seiner Ausdehnung dem Sitz einer Kombinatsleitung mehr als gerecht wurde. Weil deren Direktor so hieß und weil der Neubau etwas erhöht lag, hatte er gleich seinen Namen weg: Straussberg. Aber nichts beeindruckte mich mehr als die Trabanthalle: licht und weit, eine elektrische Hebebühne neben der anderen, neue Werkbänke, Schraubstöcke, fahrbare Werkzeugschränke. Ein weiter Parkplatz für die Kundenfahrzeuge. Eine zentrale Reparaturannahme für alle Fahrzeugtypen, Annahme-Boxen für den jeweiligen Fahrzeugtyp.
Und auf los ging es los. Was einem Chaos gleichkam. Niemand hatte daran gedacht, Parkflächen zu kennzeichnen.  Also stellten alle Kunden zur gleichen Zeit morgens irgendwo und irgendwie ihre Autos auf dieser Betonebene ab. Dann reichten sie die Schlüssel den jeweiligen Meistern, die ihn mit dem Reparaturauftrag in ihre Abteilungen nahmen. Die Autos standen kreuz und quer, viele waren zugeparkt. Und die Aufträge, in denen die Schlüssel steckten, waren fein säuberlich im ganzen Betrieb verteilt. Anfänge sind meistens holprig. Wir lernten jeden Tag dazu, schafften altes ab und probierten neues aus. Wenn ich anfänglich von einem Druck sprach, dem wir alle am Weißen Kreuz ausgesetzt waren, dann weiß ich nicht, wie ich diesen Zustand bezeichnen sollte. Das Wort Stress war uns damals noch nicht geläufig. Der Vorteil von räumlicher Großzügigkeit, besserer Technik, mehr Mitarbeitern verflüchtigte sich sehr schnell. Die Wartezeit auf den PKW Trabant war inzwischen auf weit über 10 Jahre angestiegen. Aber irgendwann ist so eine Zeitspanne auch mal vorbei. Und so nach und nach erhöhte sich die Zahl der Autobesitzer. Es musste eine nächste Stufe gezündet werden: der Schichtbetrieb. Die Reparatur-Annahme öffnete morgens um 5 Uhr und schloss abends 22 Uhr. Wenn ich in der Dunkelheit kurz vor 5 Uhr um die Ecke bog, starrten mich bereits die ersten Kunden an. War ich bis dahin noch schläfrig, so riss mich dieser Anblick regelrecht aus dem Dämmer.
Wenn man jung ist, kann man schneller umschalten. Uns gefielen die neuen Verhältnisse. Damals kam uns das, was uns heute karg, vielleicht auch primitiv erscheinen mag, wie ein Vorgeschmack auf eine großartige Zukunft vor. Für die Ordnung auf dem Platz war ebenfalls gesorgt. Sie hatten einen neuen Mitarbeiter eingestellt. Er trug eine rote Armbinde mit einem großen E für Einweiser. Ein kleiner in die Jahre gekommener Mann mit einer Brille und einem erstaunlich roten Gesicht. Was ihn nicht davon abhielt, sich an Machtspielchen zu erfreuen. Wenn ein Kunde mit seinem Auto auf dem Hof herumkurvte, hob er dieses damals übliche Utensil der Verkehrspolizei in die Höhe: einen Verkehrsstab, schwarz weiß geringelt, mit einer Schlaufe für das Handgelenk versehen. Hielt der Fahrer an, bat er ihn auszusteigen. Dann verschränkte er die Hände mit Stab auf dem Rücken und erklärte dem Verdutzten süffisant, gegen welche Regeln er gerade verstoßen habe, und das sowas mal ganz böse ausgehen könne. Besonders vor Frauen spielte er sich auf. Eine kam weinend in die Annahme. Sie sei draußen vom Chef in die Zange genommen worden, schluchzte sie. Offenbar hatte sich der Einweiser eine neue Identität zugelegt, gab sich als Betriebsleiter aus.  An einem warmen Sommertag war er verschwunden. Ich fand ihn ganz hinten am Zaun liegend, von einem Trabant verdeckt, schnarchend, eine leere Flasche Wodka in der Hand. Und mit der roten Binde am Arm! Den er weit ausgestreckt hielt, als wollte er mit dem Verkehrsstab in der Hand noch im Liegen Ordnung schaffen. Als wir ihn „neutralisiert“ hatten, er zerknirscht im Büro saß, gab er eine erstaunliche Erklärung ab:  Ein Kunde habe ihm die Flasche zugesteckt. Und wir sollten verdammt noch mal dafür sorgen, dass sie das in Zukunft unterließen. Was sie anscheinend nicht taten, denn es kam noch öfter vor, dass er verschwand. -  Eines Tages tauchte der Kanzleirat wieder auf. Gut, er hatte abgenommen, die Nase schien spitzer zu sein, aber sonst war er offenbar der alte. Er war es aber nicht. Im Werk 2 hatte er lange Zeit über einen kleinen Betrieb geherrscht, ein separates Gebilde, in dem er kreativ werden konnte, sein Stil sichtbar wurde. Er hatte mich in der Vergangenheit mehrfach gerügt, mir erklärt, wie man mit Kunden umgehen müsse, wie man sich vor ihnen zu verhalten habe. Er gehörte noch zu den Menschen alten Schlages, die bürgerlich geprägt aufgewachsen waren.  In der neuen Reparaturannahme war er einer unter vielen. Und es ging hier zu wie auf dem Gauklermarkt in Marrakesch. Der Unmut darüber war ihm am Gesicht abzulesen. Eines Morgens, als sich alle begrüßten, platzte es aus ihm heraus. Mehr als ein halbes Dutzend Leute hießen hier Peter. Das war ein gängiger Nachkriegsname.  Wenn also die Kunden in der Frühe hereinströmten, die Meister die Annahme betraten, die Brigadiers kamen, um die ersten Aufträge abzuholen, begrüßten sich also alle diese Peters untereinander: „Morgen Peter! Tach Peter! Hallo Peter! …“ Der Kanzleirat griff sich die Petermänner, zog sie von den Kunden weg und fuhr sie im Flur an, schwer atmend vor Wut. Er wolle, fauchte er, dass sie morgens diese Peternummer einstellen. Das gehöre sich nicht vor den Kunden. Man könne sich hinten in der Werkstatt oder sonst wo begrüßen. Und er verstehe nicht, dass ihnen das nicht selber in den Sinn komme. - Ein paar Wochen später kündigte er. Monate später starb er.
Von 1975 bis 1990! Fünfzehn Jahre! Die im Rückblick wie im Fluge vergangen waren. Wie auch sonst im Leben gab es gleichförmig verlaufende Tage, interessante Begegnungen und chaotische Momente. Ärger meldete sich selten an. Er kommt um die Ecke und auf uns zu. An einem Freitag in der Spätschicht, war der Andrang besonders groß. Die Kunden standen dicht an dicht, schimpften, einer bekam einen epileptischen Anfall. Als wir ihn wieder auf die Beine stellten, wollte er lautstark wissen, weshalb wir ihn anfassten. Wir sagten ihm, dass er auf der Erde gelegen und gezappelt habe. Da wurde er so wütend, dass wir zurückwichen. Er wolle sofort den Direktor sprechen, rief er, man habe ihn betatscht, vermutlich seine Brieftasche stehlen wollen. Sehr viele Autos wurden an diesem Tag nicht fertig. Das kam oft vor: Ersatzteile fehlten, es waren zusätzliche Mängel festgestellt worden oder Kollegen waren durch Krankheit ausgefallen. An normalen Tagen nahm man betroffene Kunden beiseite und warf sich vor ihnen in den Staub. Sie seufzten zwar, blieben aber ruhig. Nun war es anders. Ein anschwellendes rebellisches Gemurmel füllte den Raum aus, die Telefone klingelten, auf dem Hof krachte es.
Da ich mich fast nur noch in der Annahme aufhielt, um die Wogen zu glätten, weinende Frauen zu beruhigen und Mitarbeiter anzuschreien, hatten zwei Lehrlinge sich eines der Autos gegriffen, waren über den dichtgestellten Hof gerast und in ein weiteres Auto gekracht. Am Montag kam ein hohes Tier vom Bezirk Rostock und ließ alle aufmarschieren: Direktor, Produktionsleiter, Bereichsleiter, mich. Schon als ich ihn sah, nahm ich vorsichtig meinen Kaugummi aus dem Mund. Dann brüllte er so laut, dass ich befürchtete, wir würden nun alle erschossen werden. In dieser Tonlage bleibend, beschrieb er das Chaos von dem ihm berichtet wurde. Dann gab er die Befehle, in denen das Wort „unverzüglich“ am häufigsten vorkam. Und mit gesenkter Stimme, ja fast raunend, deutete er an, was mit uns allen passieren könnte, wenn wir den Anweisungen nicht unverzüglich nachkämen. Ich war froh, in dieser Runde nur das kleinste Licht zu sein. Fürchtete aber, dass diese Tritte nach unten weitergegeben würden.    Die Folge war, dass fieberhaft Unsinn angeordnet wurde. Etliche Frauen aus der Verwaltung standen fortan hinter dem Tresen und sollten die Kunden empfangen. Da sie aber keine Ahnung hatten, was eine Kurbelwelle ist oder eine Mitnehmerscheibe, klapperten sie mit den Augendeckeln und sahen verzweifelt an den Kunden rechts und links vorbei nach einem Fachmann. Ja, die Ersatzteile! Sie wurden aus dem Zentrallager Wittstock transportiert. Einmal fuhr unser Lagerarbeiter auf den Hof. Ich hielt den LKW an und fragte, wie viel Auspuffanlagen er mitgebracht habe. In meinem Notizblock hatte ich Kunden über zwei Seiten notiert, die dringend eine benötigten. Mein Kollege, ein blonder und an sich gutmütiger Typ, den die ganze Fragerei in Rage brachte, sah mich hasserfüllt an, seine Nasenflügel bebten. „Zwei Stück!“ rief er. Aber die seien für die Armee, setzte er schadenfroh hinzu.
In den achtziger Jahren wurden die Kunden rebellischer. Sie drohten mit Ausreiseanträgen. Ein Kunde, der mir seinen Trabant auf dem Hof zeigte, er war über Nacht hergeschleppt und hier abgestellt worden, verlangte sofort eine neue Karosserie. Ich starrte auf das, was mal ein Auto gewesen war. Es war flach wie eine Parkbank. Ich schloss die Augen. Er habe sich überschlagen und sei unbeschadet dort herausgekommen, sprudelte es aus ihm heraus. Was ich ihm nicht ganz abnahm, den seine Stimme überschlug sich, er zitterte beim Sprechen, verhaspelte sich oft, fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht oder kratzte sich den Hinterkopf. Ich sagte ihm, dass sich die Wartezeiten auf Karosserien so allmählich den Wartezeiten auf neue Autos anglichen. Dann könne ich meinem Direktor gleich bestellen, entgegnete er, nachdem er sich mit der Rechten wieder im Gesicht herumgefuhrwerkt hatte, dass er einen Ausreiseantrag einreichen würde. Ich fand’s lustig, wurde aber, je länger er redete, zusehends wütend.  Ich stand kurz davor ihm zu sagen, dass ich nicht auch noch für Passangelegenheiten und Anträge zuständig sei, mir reiche schon der normale Druck, ich würde doch diese verdammten Karosserien und Auspuffanlagen, Kurbelwellen, Kolben und Zylinder, Batterien, Auspuffkrümmer, Gelenkwellen, Gelenkmanschetten und was weiß ich noch für tausend andere Teile, nicht selber herstellen! Er könne mich mal! – Ich ließ es. Schuld daran war wohl die Tiefenwirkung der Kanzleirats- Belehrungen über den Umgang mit Kunden. Dennoch meldete ich diesen Vorfall nach oben. Der Kunde wurde angeschrieben, eingeladen, und ein paar Wochen später fuhr er mit seinem reparierten Auto vom Hof. Ich hatte mal einen Film gesehen, in dem ein altes havariertes Frachtschiff vorkam. Die Mannschaft stoppte mit Werg den Wassereinbruch, kaum war eine Stelle leidlich dicht, brach das Wasser an der nächsten Planke durch. Dichtete einer mit beiden Händen zwei Löcher ab, spritzte das Wasser an einer dritten Stelle hervor. Und so weiter, bis das Schiff schließlich versank.
Als unser altes Schlachtschiff nach über vierzig Jahren versank, kam das nicht ganz überraschend. Es waren zuvor keine Enten über Straßenkreuzungen gelaufen oder hatte Zeichen ähnlich vager Art gegeben. Vielmehr sehr eindeutige: die Montagsdemonstrationen, Prager Botschaft, Grenzöffnung in Ungarn. Plötzlich fehlten Kollegen: Sie hatten die Chance in Ungarn genutzt. Ihre Mitgliedschaft in der SED hatte sie offenbar keine Sekunde zögern lassen. Ich, der parteilos war, zögerte anfangs sehr, diese Art von Veränderung anzunehmen. Obgleich eines meiner Lieblingszitate lautet: Die einzige Konstante in der Welt ist die Veränderung. Am Montag nach der Währungsunion ging zögerlich die Tür auf, ein Kunde steckte seinen Kopf durch den Spalt, besah sich die leere Reparatur-Annahme und fragte, was eine Trabant-Auspuffanlage kosten würde. Ich nannte ihm den neuen Preis, er war niedriger als der zuvor, dafür aber in DM-Mark. „Ihr seid doch alle nicht ganz dicht!“, rief er, „Stasi-Bande, verfluchte!“ Ja, es war auch die Zeit der Extremisten. Und weil wir nichts zu tun hatten, gingen wir alle nach draußen, um uns den leeren Parkplatz anzuschauen. Dort, wo früher die Autos dicht an dicht standen, schlug uns eine gähnende Leere entgegen. Wir alle starren über das Betonfeld: die Annahmedamen, Schlosser, Brigadiers, Meister und Ingenieure. Einige rauchten. Andere kicherten oder hüstelten. Wie zum Hohn leuchtete warmes Sonnenlicht das Areal aus, „Schrappnellwölkchen“ flogen hoch dahin. Dies hier waren kein Parken, kein vorläufiges Abbremsen, kein Zwischenstopp. Die Autozentrale hatte sich erübrigt.

 

^Top